Zwischen
Russen und Deutschen eingezwängt zu sein, ist die historische
Bestimmung Mitteleuropas. Die mitteleuropäische Angst schwankt
historisch zwischen zweierlei Sorge hin und her: die Deutschen kommen,
die Russen kommen. Der mitteleuropäische Tod, das ist der Tod im Lager
oder im Gefängnis, ein kollektiver Tod. Massenmord, Säuberungen. Die
mitteleuropäische Reise, das ist die Flucht. Aber woher, wohin? Vor den
Russen zu den Deutschen? Oder vor den Deutschen zu den Russen? Gut, dass
es auf der Welt im Notfall noch Amerika gibt.
Aus:
Juri Andruchowytsch und Andrzej Stasiuk, Mein Europa,
Frankfurt, 2004, S. 43
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Drachen
und Greifen kommen aus den Bildschirmen und schweben durchs Zimmer, zwischen
heiligen Öldrucken, kleinen Kreuzbildern, Erinnerungen an die
Erstkommunion, Hochzeitsfotos und Plastikrosen. Dieses Bild hat mich
schon immer fasziniert: »die Stars des Wrestlings«, »Magazin der
Extremsportarten«, »Giganten des Surfings« wabern in Kunkowa, in
Vapenik, in Panyok oder Antoniwka durch die Küche und dringen durch die
Pupillen in die Gedanken einer siebzigjährigen Frau. Sie vermengen sich
mit Litaneien und Gebeten, mit den Erinnerungen an fremde Truppen, die
durchs Dorf zogen, sie vermischen sich mit der Erinnerung an die
Zeiten, in denen man vom Frühjahr bis zum Herbst barfuß ging, mit
Erinnerungen an das Elend und die Monotonie eines ein für allemal
festgelegten Horizonts, mit einer Biologie, die es nicht gestattet,
jemandem zu vertrauen, mit dem wir nicht durch Blutsbande verbunden
sind, mit der Angst und Verachtung für alles Fremde, mit der Hühnersuppe
an Feiertagen und Topfen, Brot und Milch das ganze Jahr über, in dem
die Namen der Monate keine Veränderung bedeuten, sondern bloß
gnadenloses Vergehen, wie es war am Anfang, jetzt und immerdar, und von
Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Ja, das lässt mich nicht schlafen, denn es
handelt sich um das Geheimnis der menschlichen Seele, vor allem der mitteleuropäischen
Seele, deren Existenz nie endgültig bewiesen, deren Realität aber
auch nie definitiv widerlegt wurde. Manchmal erscheint sie mir ganz körperlich,
wie damals in Orlov oder Andrejovka, als ich aus dem Zugfenster kleine
Jungen sah, die ein Rad mit Hilfe eines gebogenen Drahtes über den
staubigen Weg trieben - das Spiel ihrer Väter und Großväter -, und
etwas später sah ich genauso einen Reifen, an einem Baum befestigt, auf
den jemand mit Ölfarbe die Buchstaben NBA gemalt hatte, und die Brüder
der Jungen, die ich ein paar Kilometer vorher gesehen hatte, zielten mit
einem Gummiball in diesen Reifen. Oder sie erscheint mir auch geistig
und künstlerisch, wie an jenem neunzehnten August in Iwano-Frankiwsk,
am Jahrestag der Unabhängigkeit, als auf dem Gehsteig ein Militärorchester
spielte, das voll Inbrunst Melodien von Gershwin und Beethoven mit
Volksliedern von den Steppen und Klippen vermischte, Rhapsody in blue
und Märsche, die Ode an die Freude und Lehar und Legrande, und das
alles innerhalb weniger Takte und ohne die Mundstücke auszuwechseln.
Das war so schön wie die Zigeunerpaläste bei Konin und Kalisz, so schön
wie Disneyland, wie die Eisrevue und all diese Dinge, von einer
kindlichen Vorstellung geschaffen, die kaum imstande ist, das Vergangene
vom Jetzt und von dem erst Kommenden zu unterscheiden, schön und
geheimnisvoll wie das Denken einer alten Frau, das problemlos die
Feuerprobe von zweiundvierzig Kanälen des Satellitenfernsehens besteht.
Denn sie erhebt sich vom Tisch, räumt das Geschirr weg, bringt es zur
Spüle und wäscht ab, so wie das ihre Mutter und Großmutter getan
haben, und dann kniet sie vor ihrem Bett nieder und betet das Gegrüßetseistdumaria,
als wäre nichts geschehen, als hätte die Fülle von Bildern, Körpern
und Ereignissen sie gar nicht erreicht. Schließlich legt sie sich
schlafen und wird nur von alten, erprobten Träumen heimgesucht. Die
Welt ist eine Fiktion. Anders könnte die Seele keine Erlösung finden,
weil sie zwar - so sagt man jedenfalls - unsterblich ist, aber doch vor
Schreck absterben kann, um nie mehr zu erwachen.
a.a.O., 98 f.
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"Mitteleuropäer zu sein bedeutet: Zwischen dem Osten,
der nie existierte, und dem Westen, der allzusehr existierte, zu leben.
Das bedeutet, »in der Mitte« zu leben, wenn diese Mitte eigentlich das
einzige reale Land ist. Nur dass dieses Land nicht fest ist. Es gleicht
eher einer Insel, vielleicht sogar einer schwimmenden. Ja, vielleicht
sogar einem Schiff, das den Strömungen und Winden East-, West und
retour ausgesetzt ist. Die Richtungen der Welt grenzen, wie die
Elemente, an die Symbole, die Allegorien, das fatale Konkrete. Auf
dieser Insel oder auf diesem Schiff zu leben bedeutet, unablässig dem
Wechsel des Wetters zuzusehen, die Insel von einem Ufer zum anderen
abzuschreiten oder von einer Seite des Schiffes zur anderen zu gehen.
Und wie bei einer Seereise nur an das Jetzt und an die Zukunft zu
denken, weil uns die Vergangenheit nur rationale Warnungen von der Art»
Wir wären besser zu Hause geblieben« liefert."
a.a.O.,
S. 141
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